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Stellungnahme der LEiS-NRW e.V. zum Abschlussbericht der Enquetekommission „Chancengleichheit in der Bildung“

Wir, die Landeselternschaft der integrierten Schulen in Nordrhein-Westfalen (LEiS-NRW e.V.), nehmen den Abschlussbericht der Enquetekommission „Chancengleichheit in der Bildung“ mit Interesse und Respekt zur Kenntnis. Der Bericht liefert eine umfassende und tiefgehende Analyse der Bildungssituation in unserem Land. Er zeigt eindrücklich, dass Bildungserfolg in Nordrhein-Westfalen noch immer in erheblichem Maße von der sozialen Herkunft, dem Wohnort und den Ressourcen der Familien abhängt. Diese Diagnose teilen wir ausdrücklich. 
 
Der Bericht der Enquetekommission bestätigt, dass die Ursachen für Bildungsungleichheit vor allem vor der Schulzeit und an den Übergängen zwischen den Bildungsstufen liegen. Kinder starten mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schule, und soziale Benachteiligungen verstärken sich dort, wo Übergänge zu früh selektieren oder nicht ausreichend begleitet werden. Dies ist Ausdruck ungleicher Förderung und unzureichender Abstimmung zwischen den Bildungsphasen. Daher fordern wir, dass das Bildungssystem als gemeinsame Verantwortungsgemeinschaft verstanden wird, in der jede Schulform – insbesondere auch die integrierten Schulen – die Bildungsbiografien ihrer Schülerinnen und Schüler aktiv begleitet. Übergänge müssen zu pädagogischen Brücken werden, nicht zu Trennlinien.
 
Als Eltern erleben wir tagtäglich, wie wichtig Kontinuität, Beziehung und individuelle Förderung für den Lernerfolg unserer Kinder sind. Schulen brauchen Zeit, Personal und Strukturen, um Kinder über Jahre hinweg in ihrer Entwicklung zu begleiten. Hier leisten insbesondere integrierte und ganzheitlich arbeitende Schulen einen zentralen Beitrag. Sie ermöglichen Lernbiografien ohne abrupte Brüche, fördern Vielfalt in der Gemeinschaft und setzen Inklusion selbstverständlich um.
 
In diesem Zusammenhang möchten wir auf ein im Bericht unberücksichtigtes, aber in der Praxis äußerst erfolgreiches Modell hinweisen: die PRIMUS-Schulen in Nordrhein-Westfalen. Diese Schulen verbinden Grundschule und Sekundarstufe I zu einer durchgängigen Schule von Klasse 1 bis 10 und schaffen damit genau das, was der Bericht als zentrales Defizit beschreibt – nämlich kontinuierliche Bildungsbiografien ohne Selektionsdruck. PRIMUS-Schulen arbeiten integrativ, inklusiv und individualisierend. Sie verbinden die pädagogische Stärke der Grundschule mit der fachlichen Tiefe der weiterführenden Bildung und fördern Kinder und Jugendliche bis zum mittleren Schulabschluss in einer stabilen Lernumgebung.
Wir bedauern ausdrücklich, dass die positiven Ergebnisse dieser Schulversuche – insbesondere im Hinblick auf Chancengerechtigkeit, soziale Integration und emotionale Schulbindung – im Bericht der Enquetekommission kaum Erwähnung finden. Aus unserer Sicht sind PRIMUS-Schulen ein beispielhaftes Modell dafür, wie das bestehende System weiterentwickelt, aber nicht abgeschafft werden kann. Sie zeigen, dass Durchlässigkeit und Individualisierung innerhalb eines vielfältigen Systems möglich sind. Deshalb fordern wir, die gewonnenen Erkenntnisse aus den PRIMUS-Schulen systematisch als Vorbild für zukünftige Schulentwicklung in allen Regionen des Landes zu nutzen.
 
Gleichzeitig betonen wir, dass Integration und Inklusion an allen Schulformen gleichwertig umgesetzt werden müssen. Die Realität zeigt, dass Inklusion in NRW bisher stark ungleich verteilt ist: Während integrierte Schulen und Gesamtschulen den größten Teil der inklusiven Arbeit tragen, beteiligen sich Gymnasien und einige Realschulen bislang nur eingeschränkt. Diese Schieflage führt zu einer neuen Form der Segregation und steht im Widerspruch zu den Zielen der Chancengleichheit. Inklusion darf kein freiwilliges Zusatzangebot sein, sondern muss als gemeinsamer Bildungsauftrag verstanden werden. Dafür braucht es verbindliche Mindeststandards, eine bedarfsgerechte Ressourcenzuweisung und eine konsequente Qualifizierung aller Lehrkräfte. Wir fordern, dass jedes Kind – unabhängig von seiner Schulform – Anspruch auf die gleiche Qualität sonderpädagogischer und sozialpädagogischer Unterstützung hat. Es darf nicht sein, dass Eltern die Schulform nach der Verfügbarkeit von Unterstützungspersonal wählen müssen.
 
Wir brauchen keine neue Strukturdebatte, sondern eine entschlossene Qualitätsdebatte.
 
Als Eltern wollen wir, dass unsere Kinder unabhängig von Herkunft, Wohnort oder Begabung gleiche Chancen auf bestmögliche Bildung erhalten. Wir wünschen uns Schulen, die fördern statt sortieren, begleiten statt aussondern und Vielfalt als Stärke begreifen. Das bestehende System kann diesen Anspruch erfüllen – wenn es als kooperatives Gesamtsystem weiterentwickelt und qualitativ gestärkt wird. Die integrierten Schulen bieten systematisch gleiche Chancen auf gute Bildung und können für das dreigliedrige System ein wichtiger Impulsgeber sein. Sie stehen für Offenheit, Vielfalt und Durchlässigkeit – und sie beweisen täglich, dass gemeinsames Lernen auf unterschiedlichen Niveaus möglich ist, ohne Leistungsorientierung aufzugeben.
 
Wir möchten in aller Deutlichkeit betonen, dass das dreigliedrige System in sich geschlossen handlungsfähig und verantwortlich agieren muss. Es kann nicht Aufgabe der integrierten Schulen oder der Gesamtschulen sein, dauerhaft die strukturellen oder pädagogischen Versäumnisse anderer Schulformen auszugleichen. In den vergangenen Jahren hat sich eine deutliche Schieflage entwickelt: Während integrierte Schulen überproportional viele Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, Sprachdefiziten oder schwierigen Lernbiografien aufnehmen und erfolgreich begleiten, entziehen sich andere Schulformen teilweise dieser gesamtgesellschaftlichen Verantwortung. Dieses Ungleichgewicht gefährdet die Glaubwürdigkeit des Systems insgesamt. Wenn das dreigliedrige System Bestand haben soll, müssen alle Glieder dieses Systems ihre jeweiligen Bildungsaufträge vollständig wahrnehmen – inhaltlich, pädagogisch und sozial. Jede Schulform ist verpflichtet, Kinder und Jugendliche entsprechend ihrer individuellen Fähigkeiten zu fördern, zu integrieren und zu qualifizieren. Nur wenn Hauptschule, Realschule und Gymnasium gemeinsam Verantwortung übernehmen und sich nicht in funktionaler Arbeitsteilung auf Kosten einzelner Schulformen organisieren, kann das System als Ganzes gerecht und zukunftsfähig bleiben. Als Elternvertretung der integrierten Schulen möchten wir uns an dieser Stelle nicht zu den Problemen des dreigliedrigen Schulsystems im Detail äußern. Klar muss jedenfalls sein, dass jede Schule selbst die Verantwortung für den Bildungsweg der ihr anvertrauten Kinder und Jugendlichen übernimmt. Insbesondere dürfen integrierte Systeme nicht durch das dreigliedrige System belastet werden, indem sie zum Beispiel deren Schüler nach Ende der Erprobungsstufe aufnehmen sollen.
 
Die Verantwortung für Bildungsbiografien bedeutet zugleich, Schulen in herausfordernden Lagen gezielt zu stärken. Schulen, die in sozial benachteiligten Quartieren arbeiten, brauchen kleinere Klassen, multiprofessionelle Teams, Schulsozialarbeit und Lernbegleiterinnen und -begleiter. Nur durch gezielte Förderung kann das System seine Selektionswirkung verringern. Wir unterstützen deshalb ausdrücklich die Forderung nach bedarfsgerechter Ressourcenzuweisung statt pauschaler Gleichverteilung. Bildungsgerechtigkeit entsteht dort, wo ungleiche Ausgangsbedingungen durch gezielte Unterstützung ausgeglichen werden.
 
Ein weiterer zentraler Punkt ist die professionelle Unterstützung und Entlastung der Lehrkräfte. Integrierte Schulen und Gesamtschulen arbeiten bereits heute in hohem Maße inklusiv und differenzierend. Das gelingt nur, wenn Lehrkräfte über Zeit für Kooperation, Austausch und Diagnostik verfügen. Wir fordern daher eine Ausweitung der multiprofessionellen Teams, feste Zeitbudgets für kollegiale Zusammenarbeit und flächendeckende Fortbildungsangebote, die die Themen Heterogenität, Sprachförderung, Inklusion und individuelle Förderung in den Mittelpunkt stellen.
 
Wir appellieren an Politik und Verwaltung, den Bericht der Enquetekommission als Grundlage für gezielte Qualitätsverbesserung zu verstehen – nicht als Anlass für Strukturdebatten. Wir fordern eine Bildungspolitik, die Stabilität, Verlässlichkeit und Weiterentwicklung verbindet. Die erfolgreichen Erfahrungen aus den integrierten Schulen und den PRIMUS-Schulen müssen stärker in den Mittelpunkt der Schulentwicklung gerückt werden. Sie zeigen, dass nachhaltige Chancengerechtigkeit im bestehenden System möglich ist – wenn Wille, Ressourcen und Verantwortung gemeinsam getragen werden.
 
Nordrhein-Westfalen braucht kein neues Schulsystem, sondern ein gerechtes, verlässliches und lernendes Bildungssystem.
Es braucht Schulen, die in Vielfalt stark sind, Lehrkräfte die begleitet und Kinder, die an ihren Stärken wachsen dürfen. 
 
Wir, die Landeselternschaft der integrierten Schulen in NRW, stehen bereit für diesen Weg – gemeinsam mit allen, die Bildung als gesamtgesellschaftliche Verantwortung verstehen.
 
Team Vorstand
LEiS-NRW e.V.

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